Der zweite Anschlag
Das Haus von Ibrahim Arslans Familie wurde 1992 durch einen rassistischen Brandanschlag zerstört – seine Großmutter, Mutter und Schwester starben dabei. Um nicht in einer Asylunterkunft zu landen, bezog der restliche Teil der Familie das Haus nach dessen Sanierung neu. Für Ibrahim Arslan bedeutete das, täglich an den Verlust seiner Lieben erinnert zu werden: „Ich musste jeden Tag die Treppen runterlaufen, wo meine Oma verbrannt ist. Ich musste jeden Tag aus dem Fenster rausgucken, wo meine Schwester wahrscheinlich ihren letzten Atemzug genommen hat. Und auch aus dem Fenster rausgucken, wo meine Mutter runtergesprungen ist. Und das als Kind.“ Nun erinnert zwar eine Plakette an der Hauswand an den Anschlag, aber zu den offiziellen Gedenkveranstaltungen wird er, der mittlerweile in Schulen als Zeitzeuge spricht, nach wie vor nicht eingeladen.
Dieselbe bittere Erkenntnis zog die in den 1980ern als Vertragsarbeiterin in die DDR eingewanderte Vietnamesin Mai Phương Kollath nach dem Brandanschlag auf die Unterkunft ihrer vietnamesischen Kolleg*innen 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Um die Verstorbenen wie auch ihre eigenen Erlebnisse nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, erhebt sie ihre Stimme und spielt Theater am Maxim-Gorki Theater in Berlin: „[I]ch will den Leuten da draußen sagen, was es mit mir macht. Und ich lass mich nicht fertig machen.“
Vor neutralem Hintergrund kommen die Betroffenen in Mala Reinhardts Dokumentarfilm zu Wort. Sie alle eint die Wut über die unzureichende Aufklärung der rassistisch motivierten Angriffe, die versagende politische Unterstützung und das Bedürfnis, das Trauma auf eine bestimmte Art und Weise zu verarbeiten und hörbar zu machen. Viele der Interviewten engagieren sich in der selbstorganisierten Initiative „NSU-Komplex auflösen“, die eigenständig Anklage gegen die Täter erheben will, an einer würdigen Erinnerungskultur arbeitet und für eine Sichtbarmachung von strukturellem Rassismus einsteht. Auf das der zweite Anschlag endlich aufhört.
„Die Geschichten der Protagonist*innen verweben sich, denn alle treten sie ein für eine lückenlose Aufklärung und ein Ende des Terrors. Dabei klagen sie an: Einen Staat, der nichts unternimmt, einen Polizeiapparat, der selbst ein strukturelles rechtes Problem hat und eine Bevölkerung, die anfeuert, unterstützt oder wegsieht. Ein Film, der gesehen werden muss.“ (Filmportal)
Director’s statement
„Wir hatten im Team begonnen, uns mit Rassismus und rechter Gewalt auseinanderzusetzen und haben dabei gemerkt, dass das Thema allgegenwärtig ist. In unserem Umfeld und in den Medien wird immer wieder darüber gesprochen, aber trotzdem gibt es so eine Art gesellschaftliche Stille dazu. Wir haben uns gefragt, woher das Unvermögen eigentlich kommt, mit diesem Thema umzugehen und wir waren dann schnell an dem Punkt, dass uns die Perspektive der Betroffenen gefehlt hat. Es gibt viele Berichte über die Täter und deren Leben, aber nur sehr wenig über die Erfahrungen der Betroffenen nach den Ereignissen.“
Mala Reinhardt
*1989, Studium der Ethnologie in Köln, Neu-Delhi und Kampala und Studium der Regie an der Filmuniversität Babelsberg.
Credits
Buch und Regie: Mala Reinhardt
Director of Photography: Patrick Lohse, Katharina Degen
Montage: Federico Neri
Ton: Paulina Albrecht, Kate Blamire, Oliver Gemballa, Parisa Karimi, Barak Kayanor, Elias Müller
Sounddesign und Mischung: Gerald Mandl
Filmmusik: Macarena Solervicens
Zusätzliche Kamera: Anabelle Powilleit, Sophia Remer
Visuelles Konzept: Patrick Lohse
Color Grading und Conforming: Falco Seliger
Titeldesign: Franziska Barth
Grafikdesign: Schroeter und Berger
Design Schlußsequenz: Maria Teixeira
Unterstützung und Beratung bei Recherche und Interviews: Barak Kayanor
Setfotografie: Patrick Lohse
Übersetzungen: Bahar Bektaş, Songül Bitiş, Katharina Degen, Şıvan Kayaş, Cemre Özer
Vivienne Reinhardt, Özge Pınar Sarp